1 Erik Schönenberg, »Bildhauerei als Erfahrungsraum«,
Katalogtext zur Kunstausstellung Wuppertal, Kunsthalle Barmen 2019
2 Dr. Emmanuel Mir, »Mut und Sinnlichkeit «, back-raum, Düsseldorf, 2008
3 Dr. Emmanuel Mir, »Zagreb 2007«, 2008
4 Emil Matesic, »Füllen mit Leere« / »Ispunjenje Prazinom«,
Galerie AZ, Zagreb, Kroatien, 2007 (übersetzt aus dem Kroatischen)
5 Gisela Elbracht-Iglhaupt, Direktorin Museum Baden, »Zeitmodell«,
Museum Baden, Solingen-Gräfrath 2007
6 Gisela Elbracht-Iglhaupt, Direktorin Museum Baden, »Skulptur«,
Museum Baden, Solingen-Gräfrath 2004
7 Erik Schönenberg, »Skulptur«, Museum Baden, Solingen-Gräfrath 2004
8 Beate Engel, Direktorin Stadtgalerie Bern, »Animal Constructions«,
Stadtgalerie Bern, 2003
9 Max Christian Graeff, »Karambolage«, Kunst in der Sparkasse, Wuppertal, 2002
10 Max Christian Graeff, »Skulpturen«, Museum Skola, Wuppertal 1998
11 Yuka Irisawa, Chief Director, »Eine Ahnung von Zukunftsarchitektur«,
INAX Gallery, Tokio, Japan, 1997 (übersetzt aus dem Japanischen)
1
Erik Schönenberg
Felix Baltzer – Bildhauerei als Erfahrungsraum
Katalogtext zur Kunstausstellung Wuppertal, Kunsthalle Barmen 2019
Im Jahr 1835 veröffentlichte die New Yorker Zeitschrift The Sun eine Reihe von Artikeln über die Entdeckung von menschlichem Leben auf dem Mond. Als Autor der Serie wurde – was nicht stimmte – der Astronom und Physiker Sir John Herschel benannt. Es handelte sich um eine satirische Reaktion auf die zu der Zeit sehr populären Fantasien, die selbst Intellektuelle wie Ralph Waldo Emerson befeuerten. Es mag Zufall sein, aber Sir John Herschel beschrieb auch als erster das Verfahren der Cyanotypie.
Es ist einfach sich vorzustellen, dass beide großen Gefallen an den Arbeiten von Felix Baltzer haben würden. Bei einer Cyanotypie wird Papier mit eisenhaltigen Stoffen sensibilisiert, weshalb die belichteten Stellen eine blaue Färbung erhalten. Felix Baltzer setzt die Färbung als einen unendlich wirkenden Bildgrund ein, in dem die Modelle und Objekte scheinbar schwerelos schweben. Diese wirken wie von einem gleißenden Licht beschienen. In der Tat ist es der Schatten der jeweiligen Gestalt, die auf dem Papier weiß bleibt und – abhängig von Lichtdurchlässigkeit und Abstand – ihre Binnenzeichnung verliert oder von blauen Schlieren durchzogen wird, eine scharfe Umrisslinie bildet oder sich an den Rändern sanft auflöst und seine Form ändert. Die Objekte bekommen dadurch etwas Organisches; sie atmen und bersten vor Energie.
Felix Baltzer macht sich die ästhetischen Qualitäten des Verfahrens zu nutzen, um plastische Körper in zweidimensionale Verhältnisse zu übersetzen. Damit negiert er einerseits die konkreten physischen Dimensionen des Objekts, anderseits betont er von außen kommende Faktoren, wie Licht und Schatten. Mehr noch gewinnt er eine Möglichkeit, eigentlich ungreifbaren Elementen wie einer Atmosphäre oder Empfindung Ausdruck zu verleihen. Hier wie in seinen plastischen Arbeiten geht es ihm auch darum, Formen für seine Eindrücke, für die Sinnlichkeit und Emotion eines Erlebnisses zu finden. Anders gesagt, schöpft Felix Baltzer Bilder für seine Vorstellungen von Schönheit, die er in der Welt wahrnimmt.
Ralph Waldo Emerson betrachtete Schönheit als Offenbarung, die sowohl in der Natur als auch im Menschen selbst angelegt ist. Eine Verbindung, ein reziprokes Verhältnis entsteht für ihn durch den Akt des Sehens, den er mit der Metapher des durchlässigen Auges beschrieb. Es ist leicht, sich Felix Baltzer mit einem solchen vorzustellen.
===
2
Dr. Emmanuel Mir
»Mut und Sinnlichkeit«
back-raum, Düsseldorf, 2008
Auch wenn es weh tut: Die obstetrische Metapher führen wir ein ganz bisschen weiter, denn wir kommen nun auf die Skulpturen von Felix Baltzer zu sprechen. Diese wirken mal wie merkwürdige Geburtskanäle oder fantasmatische Riesenvaginas, und mal wie expressiv geschnitzte Phalli in Porno-rosa. Trotz der Dominanz ihrer Form, sind diese Skulpturen aber Spuren von einem Prozess, der – auch wenn es vom Betrachter nachempfunden werden muss – im Vordergrund der Arbeit steht.
Man stellt sich vor, wie Baltzer sich einem Schaumstoffblock nähert. In seinen Händen ein gebastelter Draht, der einen ständigen Kurzschluss produziert und dadurch genug Wärme erzeugt, um den Schaumstoff durchzuschneiden. Vielleicht sieht er entspannt und lässig aus, vielleicht sogar leichtfertig oder unbeteiligt; vielleicht aber zittert er auch gerade vor Konzentration und Spannung, denn er weiß, dass jede seiner Geste folgenreich sein wird, dass alles von der Kraft in seinen Armen abhängt. Er stellt sich über den Block und fängt an, von dieser Außenposition aus, dessen Inneres zu dekupieren. Er zieht nun den Draht längst und quer, rauf und runter, wie ein Tänzer oder wie eine Maschine, mal langsam, so dass die Materie regelrecht glüht und schmilzt, mal schneller, so dass die Oberseite rau bleibt und eine andere Verfärbung aufweist. Sein Auge streift die Oberfläche des Schaumstoffes, aber nur seine Hände sehen, was sie gerade hervorbringen. Im Inneren der Hülle, in der Matrix, entsteht die Skulptur.
Wenn man die traditionelle skulpturale Praxis als eine Bearbeitung an der Oberfläche der Materie begreift, wird klar, dass es sich hier um einen umgekehrten Prozess handelt, in dem das Objekt von Innen, von seinem Herz aus, bestimmt wird. Baltzer führt zwar die Basisgeste der Bildhauerei fort, arbeitet mit dem Raum und in den Raum, setzt sein Körper ein, formt das Positive und bezieht dabei das Negative ein, bekämpft die Struktur seines Materials und respektiert sie gleichzeitig. Aber die Kontrollinstanz des Bildhauers liegt hier in seinem Handteller und an der Spitze seiner Finger. Nicht in seinen Augen.
Und noch eine Besonderheit dieser skulpturalen Praxis: Da wo das Selbstverständnis des traditionellen Bildhauers das eines gottähnlichen Kreators ist, der aus der unbändigen Materie eine vollendete Form gewinnt, ist das Selbstverständnis von Baltzer das eines Geburtshelfers. Er hilft der Form, die im Block als potenzielle Skulptur schlummerte, herauszuschlüpfen. Er zieht sie liebevoll in die Welt. Er lässt sich manchmal von Hamster oder Ratten helfen, die sich einen Weg in die Materie frei nagen. Er lässt los. Er kann nicht immer bestimmen. Felix Baltzer als liebevoller, blinder Geburtshelfer.
Was bleibt aber von diesem Prozess? Denn es ist keine Performance, kein Happening, sondern ganz deutlich: Eine Skulptur. Was aus dem Block gewonnen wird, ist letztendlich sichtbar gewordene Zeit. Die Beschleunigungen und Verlangsamungen hinterlassen nicht die gleichen Spuren, und die einmalige, individuelle Intensität der Gesten von Baltzer hat sich im Schaumstoff dauerhaft eingeprägt. Wie ein Paläontologe die Bewegungsart eines prähistorischen Reptils aus den Überbleibseln seiner Kriechspuren im Ton schließen kann, kann der Betrachter der Skulpturen die Schnelligkeit oder Langsamkeit jeder Handumdrehungen nachvollziehen. Action Painting im Schaumstoff? All-over in 3D? When movement becomes form …
===
3
Dr. Emmanuel Mir
»Zagreb 2007«
2008
Ein junger deutscher Bildhauer flaniert in der Hauptstadt Kroatiens. Er wurde eingeladen ein paar Wochen in dieser Stadt zu verbringen. Er ist zum ersten Mal hier und geht unbeschwert durch die Zagreber Straßen. Er hat nichts Besonderes vor. Er ist da und freut sich darüber. Lässt sich ein auf diesen fremden Ort. Lässt sich gerne auf Überraschungen, auf Zufälle ein. Lässt sich treiben. Schlendert an Stadtpalästen, öffentlichen Bädern und kommerziellen Bauwerken vorbei. Lässt seinen Bildhauerblick auf die Volumina dieser geschichtsträchtigen Stadt fallen. Und findet dabei die Spuren ehemaliger Bildhauer. Überall. Atlanten, Karyatiden und Hermen; an den Häuserfronten und an Pfeilern. Aurora, Fortuna und Fama. Zeugen der wirtschaftlichen Blüte Zagrebs im späten 19. Jahrhundert. Baltzer findet überall diese steinernen Figuren, meist weiblich, meist spärlich bekleidet. Der männliche deutsche Bildhauerblick von Felix Baltzer erfasst all diese Schönheiten. Die stattliche Fama, die laszive Fortuna, die pikante Themis. Die kugeligen Busen zur Straße hingereckt. Die prallen Hüften, wunderschön, obszön. Überall diese weißen, nackten Körper. Der Bildhauer malt sich aus, mit welcher Wollust Bildhauer vor hundert Jahren oder mehr diese Figuren geformt haben. Es ist Frühling in Zagreb. Baltzer vergleicht diese neuen Eindrücke mit seinem Erfahrungsschatz – seiner Erfahrung als Bildhauer, als Flaneur, als Mann. Nie hat er so viele steinerne Weiberkörper auf der Straße gesehen. Nie ist ihm die sexuelle Aufladung von Stein so explizit vor die Nase gehalten worden. Das lässt ihn nicht kalt. Er reagiert darauf. Die Zeit, diese Eindrücke bildhaft umzusetzen, ist zwangsläufig sehr kurz. Und alles geschieht auf der Straße. Baltzer erfindet nichts. Es ist alles gefunden. Aber in Perspektive gebracht. Neu kombiniert, zusammengefügt. Verschoben und arrangiert. Die Pin-ups von Gestern mit den Musen von Heute, die freudsche Bildsymbolik mit der plastischen Sprache des Readymades. Der Abfall von Manchen mit der Kunst der Anderen. Felix Baltzer nimmt Bezug. Und interpretiert Zagreb – von seinem singulären Standpunkt aus – neu.
===
4
Emil Matesic
»Füllen mit Leere« / »Ispunjenje Prazinom«
Galerie AZ, Zagreb, Kroatien, 2007 (übersetzt aus dem Kroatischen)
Ständig ist der deutsche Bildhauer Felix Baltzer auf der Suche nach Inhalten des Materials, das er zu Erforschung und Bearbeitung ausgewählt hat. Dabei geht es ihm weder um die Entdeckung formaler Möglichkeiten, die das Material bietet, noch um eine spezielle Bearbeitung von dessen Oberfläche. Vielmehr sucht er sich in denjenigen oder diejenige einzufühlen, die vor ihm mit diesem Material umgegangen sind.
Dieses selbst ist für Baltzer nebensächlich, ein fast flüchtiges Medium, durch das man neue Erfahrungen und Inhalte sammelt. Die Faszination einer rauen Oberfläche, wie sie – etwa bei den gefundenen Rahmen von Handtaschen – durch die Bearbeitung mit einem Werkzeug entsteht, dient dem Autor als Vehikel einer gedanklichen Entdeckungsreise nach Bedeutungen der Fundstücke. Die Rahmen zu füllen, zeigt ebenso die Absicht des Künstlers an, die Sinne zu testen und eine andere Wahrnehmung der Welt durch intelligente Geschöpfe oder leblose Dinge zu erfahren, wie das in früheren Arbeiten die Einschnitte mittels verschiedener Werkzeuge getan haben.
Als »Tourist mit einer Aufgabe« in einer neuen Umgebung nutzt er die Situation dazu, Objekte und Menschen frei von allen Konnotationen, die ihnen für Betrachter in dieser Umgebung anhaften, zu erfassen. Wie ein gewissenhafter Müllentsorger fahndet Felix Baltzer nach den Spuren vergangener Zeit und toter Ideologien. Die Rahmen von Frauenhandtaschen, die er in großer Zahl auf der Straße gefunden hat, fast als ob ihr Schicksal das dadaistischer Readymades wäre, schienen auf einen Fremden gewartet zu haben, der ihnen eine neue Rolle geben sollte. Zugleich dienten sie ihm für eine kurze Zeit, seinen Wunsch nach der Erfahrung eines Anderen zu stillen.
Indem er mit der Rolle der jeweiligen Vorbesitzerin spielt, behandelt er die Reste der Taschen wie Bilderrahmen, das wird ihre neue Funktion. Der Inhalt der Handtaschen soll Erlebnisse und visuelle Erfahrungen verkörpern, wie die Frauen sie vielleicht einmal gemacht haben. Von ihren Gedanken und Gefühlen möchte er sich durchdringen lassen.
Gegenstände, die ihr Bestes vor langer Zeit gegeben haben und nun auf bloße Metallrahmen reduziert sind, öffnen sich vor den Augen des Betrachters wie Truhen der Intimität.
Die Rahmen auszufüllen, ist nicht mehr als das Spiel eines Fremden, den Eindruck der Stadt mit aufgeschnappten Erinnerungen derer zu verflechten, die einst die Handtaschen wirklich benutzt haben.
Ob am konkreten Material oder in schwebenden Konzepten – Baltzers Taktik bleibt gleich. Langsam gibt er sich seiner Obsession hin, vorsichtig und stufenweise legt er die Scheu vor den früheren Benutzerinnen ab, die Arbeiten werden offener und freier. Wie mit einem Bohrer dringt er immer tiefer in ihre Intimsphäre vor, über neutrale architektonische Motive bis zu den softpornographischen Bildern, die mehr oder weniger in jedermanns Kopf lauern. Die innere Wirklichkeit einer Person wird an die Oberfläche gebracht und zu einem neuen Artefakt zusammengesetzt.
So findet der Künstler seine eigene raison d’être. Er macht Collagen aus gefundenen Objekten, Photographien von Bauten, die eine Art Kolonialzeit repräsentieren, und neueren Zeitungsausschnitten, befreit von jeder Bedeutung, die einzelne Teile für Einheimische haben mögen. Auf so einfache Weise findet er die Urbilder, nach denen er sucht: Frauen, Männer, ein interessantes Spiel verschiedener Formen oder einfach das Echo auf eine Verzierung am Rahmen. Seine glückliche Unkenntnis der Geschichte des Landes, in dem er gastiert, ist eine Therapie für das durch Belehrungen belastete Verhältnis der hiesigen Bevölkerung zu deren Wirklichkeit. Seine in der Galerie AŽ ausgestellten Werke sind frei von platten politischen Bedeutungen. Der Autor stellt nur die Zeiten und Räume, in denen er sich aufhält, dem Unveränderlichen gegenüber: dem menschlichen Körper, der kraftvollen Direktheit weiblicher Nacktheit und unserer Neugier nach der Intimität des Anderen.
Der Mut, durch alle Möglichkeiten der Ausdrucksfreiheit zu reisen, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Ursprung, Nationalität und sogar die Form, ist der kreative modus operandi von Felix Baltzer.
===
5
Gisela Elbracht-Iglhaupt, Direktorin Museum Baden
»Zeitmodell«
Museum Baden, Solingen-Gräfrath 2007
Felix Baltzer (*1965) absolvierte sein Studium von 1988 bis 1995 an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Prof. Antony Cragg. Im Jahr 1998 erhielt Felix Baltzer den renommierten Bergischen Kunstpreis, der von einer Fachjury vergeben wird, sowie den Publikumspreis. Im Rahmen einer Einzelausstellung präsentierte er 2004 im Museum Baden raumgreifende Kunst, die das Publikum durch ihre intensive Bildsprache beeindruckte.
Im Rahmen der Gruppenausstellung »gib acht!«, im Jahr 2006, zeigte er eine Großskulptur, die sich schnell zu einem Mittelpunkt der Schau etablierte und viel Lob bei den Museumsbesuchern und aus der Fachwelt erhielt.
Baltzers Skulptur »Zeitmodell« fasziniert im Wesentlichen durch ihre Materialität. Aus grell rosa Polystyrolextruderschaumstoffplatten der österreichischen Firma Austrotherm hat der Bildhauer eine überdimensionale Skulptur geschaffen, die sich mit Grundkompositionsfragen der Bildhauerei wie Volumen, Masse, Gewicht, Oberflächentextur, Farbe und Form auseinandersetzt.
Das organische Gebilde erstreckte sich über fünf Meter auf dem Boden liegend in dem Museumsraum und wurde zum leuchtenden, farbintensiven Anziehungspunkt für die Blicke der Besucher. Die Höhe des Objektes verhindert, dass man über die Skulptur hinwegsehen kann und fordert vom Betrachter ein aktives Umschreiten, um Details zu erfassen. Der Bildhauer hat die Dämmplatten übereinander und nebeneinander geschichtet und anschließend mit einem 3,50 Meter langen erhitzten Konstantandraht eine Form in die Quader geschnitten. Daraus entwickelte sich eine geschwungene Form, die von ihrer Textur her an die über Jahre gewachsenen, linearen Verläufe auf den steinigen Oberflächen eines Gebirgsmassivs erinnert. Trotz des enormen Volumens ist die Skulptur relativ leicht, die Masse steht im Gegensatz zum verhältnismäßig geringen Gewicht. Die Ausdehnung im Raum definiert die architektonischen Verhältnisse und den Standpunkt des Betrachters neu.
Beeindruckt die plastische Gestalt aus der Entfernung durch ihr Format und die Signalfarbe, ergibt sich aus der Nahsicht eine spannende visuelle Erforschung der Außenseite. Durch das Bearbeiten mit dem heißen Draht ergeben sich interessante ungleichmäßige Strukturen und kaum wahrnehmbare Farbverläufe, die sich horizontal über die poröse Oberfläche des Materials ziehen. Die geschwungene äußere Form verhält sich im gleichmäßigen Wechsel konvex und konkav zum Raum und sorgt für erlebnisreiche Spannung beim visuellen Abtasten des skulpturalen Körpers. Die industrielle vorgegebene rechtwinklige Form der Platten steht im Gegensatz zu den Rundungen und Auswuchtungen des Objektes, die fast naturhaften Charakter haben. Die Anatomie der Skulptur ergibt sich aus der geplanten Handlung des Bildhauers, überlässt aber bewusst auch viel dem Zufall.
Inhaltlich thematisiert Felix Baltzer den Begriff der Zeit und Antagonismen wie Schnelligkeit und Langsamkeit, Bewegung und Stillstand, Kontinuität und Vergänglichkeit. Damit verleiht er immateriellen Begriffen bildhauerische Gestalt. Die Gesamtwirkung der Bildsprache überzeugt nachhaltig. Felix Baltzer hat ein scheinbar profanes modernstes Baumaterial zu einem erhabenen Kunstwerk verwandelt. Das »Zeitmodell« beeindruckt durch seine unvergleichliche Aura intensiv und tief.
===
6
Gisela Elbracht-Iglhaupt, Direktorin Museum Baden
»Skulptur«
Museum Baden, Solingen-Gräfrath 2004
Felix Baltzer ist im Museum Baden kein Unbekannter. 1998 gewann er den 52. bergischen Kunstpreis und am Ende der Ausstellung auch den Publikumspreis, was bis dahin einmalig war. Baltzer zeigte auf der Bergischen ein monumentales Selbstportrait, das aus einem ungewöhnlichen Material erstellt wurde: geschichteter Wellpappe.
Für die Reihe »Neuer Kunst im Altbau« hat Baltzer nun, speziell für die wohnlich anmutenden Räume Skulpturen geschaffen. Wieder aus sehr profanen Materialien: Gipsfiguren befinden sich in einer Welt aus (Matratzen-) Schaumstoff. Der Bildhauer modelliert die Figuren in den Schaumstoff hinein und gießt die entstehende Negativform anschließend mit Gips aus. Den verbleibenden Restschaumstoff zupft er von den Figuren ab. Hier wird das traditionelle zumindest europäische Verfahren der Skulpturenherstellung etwas auf den Kopf gestellt. Denn eigentlich steht am Anfang stets die Herstellung einer Positivform aus Gips, Ton oder ähnlichen Materialien. In Afrika aber beispielsweise, werden Negativformen auch direkt in den Boden gegraben. Diese Methode erfordert ein Höchstmaß an abstraktem Denken, denn Baltzer produziert die Negativform, während die Positivform zunächst nur in seiner Vorstellung existiert.
Schaumstoff ist von besonderer Materialität, zum einen billiges Industrieprodukt, zum anderen weich und nachgebend und dennoch in Form bleibend, also für einen Bildhauer nahezu ideal. Die Gussform kann so ohne Hammer und Meißel ganz direkt und unmittelbar hergestellt werden. Sowohl die Negativ- als auch die Positivform werden beide Teil der Skulptur. Den Schaumstoff findet Baltzer in Form ausrangierter Matratzen auf dem Sperrmüll. Alltagsgegenstände mit Geschichte.
Felix Baltzer hat den Altbau in einen intimen Bereich verwandelt, die Betrachter werden zu Voyeuren einer anmutigen Szene: zwei Figuren beim Liebesakt in einer Welt aus weichem Matratzenschaumstoff. Die Liegefläche dient zugleich als Plinthe, die den Boden als Präsentationsfläche einbezieht. Erstmalig in dieser Reihe nutzt ein Künstler auch die sechste ebene Fläche eines Raumes und geht »unter die Decke«, wo er ein Gegenstück platziert hat. Stalaktitenähnlich wachsen die Schaumstoffgebilde nach unten. Die poröse Struktur wirkt schwammartig, erinnert ein wenig an Unterwasserwelten. Beide Skulpturenteile sind direkt gegeneinander gerichtet und wachsen floral, symbolisch phallisch aufeinander zu. Die Figuren selbst sind dem Raum und damit auch dem Betrachter eher abgewandt. Die helle weiß-gelbe beinahe monochrome Farbigkeit unterstützt das Eins-sein und miteinander Verbundensein.
Eine Szene zwischen Erdverbundenheit und Schweben, Himmel und Erde, irdischen und sphärischen Glück. Wir können läuernd teilhaben an der erotisch sinnlichen Situation, obwohl die Figuren sich selbstvergessen abwenden. Durch die porös wirkende Oberfläche ist das optische Gewicht der Figurfiguren sehr leicht und lässt sie zu dem verletzbar und dünnhäutig erscheinen.
Wir werden Zeuge eines emotional höchst aufgeladenen Moments, einem eingefrorenen Augenblick voll zärtlicher Vertrautheit und Poesie, der in die Sprache der Bildhauerei übersetzt wurde.
Auch der liegende Akt strahlt lyrische Verträumtheit aus. Schlummernd liegt die Figur auf der weichen Unterlage. Gips und Schaumstoff werden eins. Die Skulptur wirkt weltentrückt und zeitenthoben.
Der stehende weibliche Akt steht im wahrsten Sinne des Wortes »mit dem Rücken zur Wand«. Der Dialog mit dem Kunstwerk ist ein intensiver, man hat fast das Gefühl die Skulptur, deren Präsentation ein wenig an einen sakrales Wandreliefs erinnert, reagiert auf die intensiven Blicke des Betrachters mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins.
Fotografie
Um Ewigkeit, Zeit und Vergänglichkeit geht es unter anderem bei den Fotografien im Flur. Drei Kübelpflanzen stehen vor grauer Architekturkulisse. Die Textur der Steinplatten und die gleichmäßigen Fugen sorgen für einen abstrakten zweidimensionalen Hintergrund. Die Pflanzen stehen allerdings nicht gerade für das blühende Leben. Sie sind verwelkt und braun und sehen nicht so aus als könnten sie die Tristesse irgendwann wieder beleben. Baltzer schafft hier eigene Bildwelten, die trotz des Hinweises auf die Endlichkeit der Dinge, ebenso wie seine Skulpturen, von unsterblicher Schönheit sind.
Normalerweise denkt und produziert ein Bildhauer dreidimensional. Anders ist es bei den Baumportraits im letzten Raum. Hier wird eine dreidimensionale Form in die Zweidimensionalität gebracht, oder auch nicht? Sehen wir genau hin: die Kamera schaut wie unter einem Baum liegend total senkrecht nach oben ins Geäst. Der Ausschnitt ist so gewählt dass wir mittendrin sind. Das Auge muss sich orientieren, davor und dahinter, oben und unten neu lokalisieren, ohne schwindelig zu werden. Die Dinge scheinen in Bewegung.
Die zweidimensionale Fläche löst sich bei längerer Betrachtung auf und das Auge taucht ein in Untiefen, bzw.– Höhen. Oberflächen und die Bestandteile eines Baumes werden plötzlich bewusst wahrgenommen. Schrundig und rissig aber auch grazil und fein können sie sein und bilden ein perfektes Ganzes. Hier wird auch die Sichtweise des Bildhauers deutlich, der nach den Beschaffenheiten der Dinge im Detail sucht und im Geäst eines Baumes auch ein skulpturales Gefüge sieht. Neben dem Altbau bezieht der Künstler in die Präsentation auch den Außenraum ein, denn das Fenster erlaubt einen Blick auf den Baumbestand nach draußen, der jetzt im Frühling gerade zu explodieren scheint. Felix Baltzer präsentiert seine Fotografie, die er schon seit vielen Jahren neben der Bildhauerei produziert, erstmalig. Eine lohnende Entdeckung!
Der Bezug zwischen Fotografie und Skulptur liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass Baltzer auch sein bildhauerisches Werk fotografiert. Es geht vielmehr darum, dass die Thematik sich ähnelt, wenn auch nicht auf den ersten Blick: Formal geht es in beiden Medien um äußere Eigenschaften wie Proportionen der Dinge, die Texturen und Strukturen und deren Beziehung zueinander. Inhaltlich kann ein in Form oder Abbild festgehaltener Augenblick zugleich die Auseinandersetzung mit der Natur, dem Menschen, der Liebe, der Schönheit oder der Vergänglichkeit bedeuten. Die mittelalterliche Theorie des Schönen ging davon aus, dass ein Künstler nur der Handwerker ist, der Schönheit einer Materie lediglich freilegt, die einem Marmorblock von der Natur sowieso gegeben wurde. Seit spätestens heute wissen wir was aus einer ausrangierten Matratze werden kann, wenn sie in die richtigen Hände gerät. Für ihren Wandel zu stillen, poetischen, wunderbaren Skulpturen und ihre kraftvolle Lyrik ist allerdings nur einer verantwortlich: Felix Baltzer.
===
7
Erik Schönenberg
»Feier der Emotionen«
»Skulptur«, Museum Baden, Solingen-Gräfrath 2004
Die Skulpturen, mit denen Felix Baltzer bekannt wurde, bestanden aus abstrakten Formen und waren dabei meist aus einfachen Werkstoffen gefertigt. So schichtete er Papplagen übereinander und sägte und schliff sie dann zu einer meist großformatigen organisch anmutenden Form, die an eine Steinformation, eine Landschaft des Grand Canyon oder an einen vorwärts schwimmenden Fisch in der Tiefe des Meers erinnern konnten. Auch wenn die Formen nur assoziativ beschreibbar waren, so ist die Motivation für ihre Entstehung doch oft eine konkrete Erfahrung. Es ging Felix Baltzer immer um den Versuch, eine Form für die eigentlich ungreifbare Atmosphäre und Emotion eines Erlebnisses zu finden. So schuf er beispielsweise eine Form, die den Verlauf der Rennstrecke von Monte Carlo zur Basis hatte und eine bildnerische Umsetzung von Geschwindigkeit und Lärm war.
In seiner neuen Serie wird er auf den ersten Blick gegenständlicher. So ist das Zentrum der Hauptarbeit eine Frau und ein Mann beim Liebesakt, angefertigt aus Gips. Umgeben ist dieses Paar allerdings von seltsamen, organischen Formen, die aus dem Boden und von der Decke herabwachsen. Die Schaumstoffformen umweben das Paar und sind der eigentliche Hauptakteur der Skulptur, oder anders gesagt, deren Formen sind die geronnenen Gefühle und der Versuch dem emotionsgeladenen Moment einen Ausdruck zu geben. Das es dabei weniger um das Vögeln und auch nicht um eine Anbindung an den derzeitigen Hype des Pornpop geht, zeigt der Vergleich mit älteren Arbeiten oder den ausgestellten Fotoserien.
Bei beiden sind einfache Motive zu sehen, einmal vertrocknete Pflanzen, einmal Blicke in den Himmel und trotzdem geben sie uns einen neuen Blick auf unsere Welt. Felix Baltzer betrachtet die Welt auf der Suche nach ihren Schönheiten und erfindet dabei spannende Formen für seine Erlebnisse und Empfindungen.
===
8
Beate Engel, Direktorin Stadtgalerie Bern
»Animal Constructions«
Stadtgalerie Bern, 2003
Der Düsseldorfer Künstler Felix Baltzer baut kubische Käfige aus Drahtgeflecht, füllt sie bis zur Hälfte mit einem Schaumstoffblog und setzt in den freibleibenden Raum Hamster, Ratten und Mäuse hinein. Innerhalb von zwei bis drei Monaten graben die Tiere Gänge und Höhlen in den Schaumstoff, welche sie als Nest und Wohnstätte nutzen. Daraufhin werden die Tiere in einen neuen Käfig gesetzt und die entstandenen Hohlräume mit Gips ausgegossen. Anschließend wird der Schaumstoff von der Gipsform abgelöst, so entsteht das Positiv von der in den Schaum gegrabenen Höhle – als plastische Form. Die Abdrücke der Bissspuren der Nagetiere bilden die Oberfläche.
Der erhärtete Gips ist Abbild des Gänge- und Höhlensystems. Mit der Dauer des Projektes ist eine Entwicklung der Bauten abzulesen. Die ersten Bauten sind noch sehr unförmig und klobig. Erst mit der Zeit – Bau für Bau – werden die Formen klarer und die Funktionen der unterschiedlichen Räume sind zu erkennen. Ein System aus Gängen und Höhlen mit Vorratskammer, Toilette, Wohnräumen und Schlafraum. Außerdem besitzen die Bauten, abgesehen von ihrer Größe, je nach Tierart spezifische Formausprägungen.
Im künstlerischen Umwandlungsprozess entstehen verschiedenartige Formationen, die an Automotoren oder archaische Paläste erinnern. Die organisch gewachsenen Strukturen, die sich aus den Notwendigkeiten und Fertigkeiten der Kleintiere entwickelt haben, bieten eine Vielfalt von skulpturalen Qualitäten und menschlichen Bezugssystemen.
===
9
Max Christian Graeff
»Karambolage«
Kunst in der Sparkasse (Arvid Boecker, Udo Dziersk, Felix Baltzer), Wuppertal, 2002
Der Mond scheint fahl zwischen den Kumuluswolken hindurch; ein kalter Wind durchschneidet die Nacht und trägt ein Rumpeln und Poltern vom Schrottplatz herüber. Eine dick vermummte Gestalt huscht flink zwischen den Rosthaufen umher, erklimmt behende die Haufen und Berge aus Schrauben, Spänen, Stanzabfall. Hebt hier etwas auf, wirft dort etwas auf den Beutehügel. Sucht und hofft und findet. Sein Glück hat viele Gesichter. Nur sein Auto hat Angst. Tags darauf auf dem Messegelände: Ein mehrere Kubikmeter großes Bündel aus Beispielprodukten einer neuen Spritzgussmaschine robbt dem Ausgang entgegen. Schiebt sich wie von Geisterhand geführt durch die größten Straßen der Stadt. Nach Feierabend schließlich klingt der Meißel durch das stillgelegte Hallenbad. Ton für Ton springen die kleinen Kacheln von der Wand, stapeln und schichten sich voll Freude über dieses Spiel von selber auf. Da kamen viele, sahen sie und dachten an Schutt. Doch dann kam einer, sah sie an und dachte an Kunst.
Kunst – das klingt zwar gut, doch ist es nicht ganz richtig. Felix Baltzer denkt sicher an alles Mögliche angesichts seiner Materialien, seiner Werke, seiner Einfälle, doch nicht an die Kunst an sich. Als Kategorie, als selbstmeinende Lebensform ist sie für ihn so unwichtig wie für die meisten wirklichen Künstler, denen etwas anderes im Nacken sitzt und sie über die Leinwand jagt, über den Schrottplatz, über Bühnen, Orte und die Welt. Folglich ist es genau so unrichtig, Baltzer vordergründig als Sachensucher im Sinne Pippi Langstrumpfs zu bezeichnen, als Sammler, Bewahrer, gar als urbanen Systemneurotiker. Ihn treibt alleine die Idee. Oder zumindest schon die Ahnung einer Idee. Und die Welt seiner Ideen, die Aura seiner Objekte, die Lebendigkeit in den Ergebnissen seiner Schöpfungsversuche ist eine primäre, eine authentische und wahrhaftige. Das Sammeln und Zusammentragen seiner Materialien, manch früheren Mals schon an der Grenze einer künstlerischen Beschaffungskriminalität, ist für das Ergebnis seiner Arbeit so irrelevant wie der tägliche Brötchenkauf. Spektakulär an seinen Werken sind nicht die Fragmente, Formen und Bruchstücke der Welt, sondern das große und ganze seiner Gegenwelt.
Gegenwelt – schon wieder so ein Wort, das sich selber widerspricht. Doch ist es richtiger als es klingt. In Baltzers Werk treffen sich unablässig Formen und Gegenformen, Naturen und Künstlichkeiten, Gestaltungen und Entstehungen. In eckigem Raum, auf planem Boden liegen organisch runde Objekte, gewuchert, gewachsen. In ihrer Form noch warm, im Gegensatz zum Umfeld. In Wirklichkeit sind sie es die künstlich sind gegenüber dem gebauten Raum, der seine Leere nur als natürlich behaupten kann. Dann wieder gefällt sich ein von Baltzers Hand gebauter Kubus in seiner exakten Konstruktion aus technischen Zweckelementen – bis die bildende, bildgebende Säge aufheult und sich voll Wildheit und urmenschlichem, künstlerischem Impuls in die industrielle Systematik wirft, Gänge gräbt und Höhlen beißt, Raum schafft: eben Gegenraum. Solche Tierbauten selbst hat Baltzer sich wiederum nicht aus dem eigenen, generierten Genpool in die Gegenwart gesaugt; zur Erkundung dieser unterirdischen Raum- und Lebensformen hat er Assistenten hinzugezogen, die jenen Vorgängen noch näher sind als wir. Die ausgegossenen Gänge und Höhlen zahlreicher treuer Hamster, Mäuse und Ratten sind für Baltzers künstlerische Entwicklung ein fortgesetzt wichtiger, unbedingter Gegenstandpunkt zur reinen Formung und Umformung von Material. Denn auch wenn manche seiner Werke es nicht auf den ersten Blick verraten: Ihr Grund ist immer das Leben selbst. Wenn der Mensch schon seiner Seele nicht sicher sein kann, so sollte er zumindest seinem Handeln, seinem Werk eine solche geben. Dies tut Baltzer auf eine ihm ganz eigene Weise. Keines seiner Werke, so sachlich, konzeptionell, technisch verspielt es auch sein mag, entbehrt der Emotion des Ausdrucks, der Sinnlichkeit des Gedankens, der Zärtlichkeit im Umgang mit sozusagen totem Material.
Zärtlichkeit – darf dieses Wort in Überlegungen zu Werken aktueller Kunst eine Rolle spielen? Ist der Begriff nicht zu weich, zu amorph, zu persönlich für die heute geforderten wertsteigernden und konzeptionsstützenden Aussagen zum Tagesgeschehen? Vielleicht ist er hier – zumindest hier – wenigstens eine Chance, den künstlerischen Prozess hinter einigen Werken Felix Baltzers zu begreifen. Die Eckdaten wären so knapp wie leidenschaftslos zu umreißen: Da keimt eine Pflanze, wächst empor, wird erwachsen, genügt sich selbst und stirbt. Da legt sich die Weltgeschichte über sie und lässt sie ein Weilchen ruhen, zerdrückt sie mit der Zeit zu Öl. Da schiebt sich ein Rohr in die Vergangenheit, saugt das schwarze Gold empor, raffiniert, zerlegt und verwertet es. Da bläst man Gas hinein und schwarz wird zu weiß, schwer zu leicht und Stoff zu Kunststoff. Da reist ein Küchengerät in diesem Kunststoff um die halbe Welt, wird ausgepackt und bejubelt. Da kommt ein Knie und bricht den Kunststoff entzwei, wirft ihn in die Tonne. Und da kommt Baltzer, nimmt das Teil heraus und sagt: Du kommst mir gerade recht. Da fügt er es mit vielen anderen Teilen in ein Gebilde ein, das eine Pflanze ist. Und das sich selbst genügt. Da steckt schon eine Menge Zärtlichkeit in aller Rationalität. Ein Erzählen, Erleben und Empfinden, ein Forschen, Entwerfen und Bauen. Eine Lust an der Existenz wie an der Subsistenz. Und, nicht zu übersehen, ein künstlerisch autonomer Weg, dem Betrachter seiner Werke abzuverlangen, sich mit den Bedingungen unseres Daseins auseinanderzusetzen.
Industrielle Materialien als Umformungen der sogenannten Rohstoffe unserer Erde sind – diese Erkenntnis ist so profan wie jedes einzelne Stück Abflussrohr in Baltzers rauschendem Wasserfall – die Bausteine der Macht. Bei aller Sinnlichkeit und Empfindsamkeit seiner Arbeit ist dieses Bewusstsein ein Fundament seines Handelns. Und während im Atelier sein Selbstportrait als architektonische Vision aus papiernen Zellen, aus Staub und Luft, auf ihn wartet, streift er nächtens über die Containerhöfe der Produktionsstätten, unermüdlich auf der Suche nach verwertbaren Resten unserer Hoffnung, unserer Lust und unseres Lebens. Um uns zu zeigen, was wir haben könnten, wenn wir es nicht hätten.
===
10
Max Christian Graeff
»Skulpturen« (Rohmanuskript für die freie Eröffnungsrede)
Museum Skola, Wuppertal 1998
Einer der ersten Gedanken beim Betrachten der Skulpturen von Felix Baltzer ist bei mir stets einer über die Zeit. Diese Skulpturen, Objekte, Wesen werden nicht produziert wie manch anderes Kunstwerk. Die Arbeit scheint eine andere zu sein als die der schnellen, unentwegten Reflexion, sie ist ein gelassener, behutsamer, gar langsam scheinender Prozess des Entstehens, ganz anders als die expressive Negativausformung der Welt beim klassischen Schaffensbild des »Bildhauers«. Der künstlerische Prozess nimmt eine andere Dynamik auf als die des stets spontanen Geistesblitzes, er begleitet die Objekte, während diese sich selbst geschaffen zu haben scheinen.
Das klingt nach Vorgegebenheiten und ehernen Gesetzmäßigkeiten, die durch die Kunst bloß freigelegt werden, doch gerade diese Kunst der Erde ist es nicht, sondern die des Asphalts, wenn der Vergleich aus einer anderen Kunstgattung erlaubt ist. So nach an der »Natur« sind die Skulpturen dennoch und gerade dadurch Beispiele von Gegenwelten, von der Kunst als Bestandteil und Motor der Vernunft und des Verstandes des technologisierten, vernetzten Großstadtmenschen.
Die Objekte wirken ganz und gar nicht »zeitgemäß«, wenn man diesen Begriff – was allzu leichtfällt – mit Schnelllebigkeit, Kurzentschlossenheit und modischen Attitüden verbindet. Sie sind zwingend aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus entstanden und deshalb so modern, wie es nur geht. Denn was kann moderner sein – und das schon seit Millionen von Jahren –, als ein frischgegrabener Gang eines Rattenbaues, als der Flügelschlag eines Rochens oder als ein Wabenbau irgendeines Insekts, der einen plötzlich, je nach Sichtweise, zu ganz anderen Formassoziationen verleitet wie die eines Massivs der Rocky Mountains, eines menschlichen Körpers oder einer japanischen Formel-1-Rennstrecke.
Genau an diesem Punkt kommen wir zu der Aktualität der Objekte. Aus ihrer scheinbaren Zeitlosigkeit und einer Modernität heraus, die sich dem Tageskurs verweigert, fordern sie von uns den modernen Blick, den Blick nach vorn, uns daran erinnernd, aus welchen Beeinflussungen der Natur wir nach wie vor bestehen. Sie spielen ein gemeines und dringend erforderliches Spiel mit uns, indem sie eine Vielzahl von Assoziationen wecken, die hintergründig kein gutes Licht auf die zukunftsgläubige Gesellschaft werfen. Doch es liegt an uns selber, welche Richtung unser Denken dabei einschlägt, welche Sinne wir bemühen und wie wir die Skulpturen mit unserem eigenen Dasein in Zusammenhang setzen.
Prädestiniert sind die Objekte allemal für die Ausstellung hinter Glas, in den Aquarien und Herbarien der Wissenschaft und der institutionalisierten Kunst. Der eine Kasten mag erinnern an ein mit Formaldehyd gefülltes Glas im gespenstischen Keller der Ostberliner Charité, der andere mag ein ganz vordergründiges Trugbild sein für die Geheimnisse 20 000 Meter unter dem Meeresspiegel.
Manche Skulpturen von Felix Baltzer wirken schon nach einem Tag ihres Bestehens unendlich alt. Doch werden sie es erst viel später mal sein. Wie wird man sie nennen? Relikte aus der Frühzeit des Styropors, aus den Anfängen der Noppenbleche und aus den ersten Tagen des PVC? So ist diese Ausstellung, anders betrachtet, auch eine industriemuseale Inszenierung, von irgendeinem fernen Punkt des 3. Jahrtausends aus betrachtet.
So nah uns die Objekte sind, so fern sind wir ihnen. Sie führen ein eigenes Leben. Und während sie uns gerade betrachten, mögen sie sich fragen: Um Himmels Willen, was machen wir eigentlich hier?
===
11
Yuka Irisawa, Chief Director
»Eine Ahnung von Zukunftsarchitektur«
INAX Gallery, Tokio, Japan, 1997 (übersetzt aus dem Japanischen)
Felix Baltzer ist 1965 in Deutschland geboren. Er ist mit Anfang dreißig noch ein junger Künstler. Von 1988 bis 1994 studierte er an der Kunstakademie Düsseldorf bei Tony Cragg in der Meisterklasse. In dem Moment, in dem ich seine Präsentationsmappe sah, beschloss ich eine Ausstellung mit ihm zu machen. Obwohl er noch keine Erfahrung mit einer Einzelausstellung in Deutschland hat, haben seine Arbeiten eine Doppelstruktur von Zukunft und Antike. Sie sind umgeben von einer sanften Atmosphäre von Raum und Zeit. Das Material ist Pappe. Die Beschaffenheit des Materials unterscheidet sich aber von der japanischen Pappe. Es scheint zwar plump, doch wurde ich von der Schönheit der Struktur angezogen. Das dicke und poröse Papier, mit seiner je nach Schicht groben oder feinen Lochstruktur, ähnelt einem Bienennest. Die verschiedenen Schichten werden wie Erdschichten aufeinandergestapelt. Er formt und schneidet diesen Erdklumpen heraus.
Wenn man von Pappe spricht, erinnert man sich an Katsuhiko Hibino. 1984, als seine Universitätsabschlussausstellung in unserer Galerie stattfand, hatte er bereits mehrere größere Preise in Design und Illustration erhalten. Er hatte damals auf herkömmliche Pappe Illustrationen gemalt und Objekte daraus gemacht, die wie gebastelt aussahen. Die schnelle Pinselführung und die bunten Farben passen gut zu der Stärke und Grobheit der Pappe. Katsuhiko Hibino wählte Pappe, die ein Symbol der Massenverbrauchsgesellschaft darstellt, als Material für seinen Ausdruck. In diesem Punkt ist er ein erstklassiger Designer, der das Talent besitzt, unsere Zeit zu verkörpern. Alles Mögliche auf der ganzen Welt wird in Pappe verpackt. Gerade Pappe ist eine Materie, die in der Welt am meisten herumkommt. Mit Leinwand oder Seide, wie für die japanische Malerei, kann man unsere Zeit nicht mehr genügend ausdrücken.
In dieser Zeit brachte Felix Baltzer aus Deutschland Objekte, die wirken, als ob sie die Schwerkraft auf den Kopf stellen. Bis jetzt bediente sich die Bildhauerei der Materialien wie Holz, Stein, Bronze und Eisen. Die Geschichte der Bildhauerei kann man als die Geschichte des Kampfes gegen die Schwerkraft auffassen.
Seine Werke sind aber leicht. Einige Objekte wirken wie Gebilde, aus Wasser und Kalk modelliert, aus einer Tropfsteinhöhle heraus geschnitten, und in den Raum gestellt. Andere, die aussehen wie Türme, streben in Leichtigkeit zum Himmel. Wieder andere ähneln Toren, die durch dünne Säulen gestützt werden.
Für den Park Güell und die Kathedrale Sagrada Família hat Gaudi für die Berechnung der Statik ein Experiment namens »Funicula« gemacht. Man lässt eine Masse an einem Seil hängen und dreht dieses um. Dadurch konnte er diese schweren Bauten realisieren, die schwindelerregende Leichtigkeit vermitteln. Die Skulpturen von Felix Baltzer lassen eine Schwerelosigkeit, die nur im All existiert, vermuten. Sie widersprechen den Gesetzen der Erdanziehungskraft. Die Baukonstruktion erscheint schütter, als ob man dünnwandige Zellen gesammelt und geschichtet hätte. Durch das Material der Zukunft entstehen Gebilde, die sich winden, die dünne Spitzen besitzen oder auch mehrere 100 Stufen aufragen. Seine Skulpturen sind außergewöhnlich und architektonisch visionär. Sie lassen ahnen, dass in nächster Zeit Architektur erscheinen wird, wie sie noch nie da gewesen ist. Wir haben in der Schule die Struktur der Erde mit ihren Gebirgen und tiefen Meeresgräben gelernt. Diese Erdstrukturen werden von ihm mit einem überraschenden Material, der Pappe, geformt. Mir kommt es vor, als ob er durch diese Materialwahl dem wissenschaftlichen Fortschritt voranginge, und ihn gleichzeitig hier präsentiert.
# # #